Samantha und die Schattenwelt
Es ist Halloween. Endlich ist es wieder soweit! Seit Tagen hat sich Samantha schon auf die Halloween-Nacht gefreut. Sie hat ihr Kostüm mit viel Mühe und Liebe gestaltet. Nun streift sie mit ihren Freunden, als schwarze Hexe verkleidet, durch die Dämmerung und ruft so oft sie kann: „Süßes oder Saures!“ Samantha und ihre Freunde haben einen riesen Spaß. Sie ziehen von Haus zu Haus und wetteifern um die meisten Süßigkeiten.
Momentan liegt Samantha knapp vorne. Ihr Eimerchen ist schon ordentlich gefüllt. Das Großmaul Lars aus ihrer Parallelklasse ist aber kurz davor, ihr den ersten Platz streitig zu machen. Um den Vorsprung zu halten, nimmt sie auf dem Weg zum alten Haus der Klinkers eine Abkürzung über die Seitengasse.
Nach ein paar Schritten bemerkt sie, dass die Lampen auf dem Weg nicht leuchten. Sie scheinen kaputt zu sein. Ohne Beleuchtung der Laternen ist die Gasse ganz schön düster. Mehr und mehr zieht Nebel auf und Samantha befindet sich plötzlich inmitten einer dicken Nebelwand. Aber schon nach ein paar weiteren Schritten hat sie es geschafft und die Nebelwand durchquert.
Auf der anderen Seite führt der Weg ganz normal fort. Nur ist alles dunkler und unheimlicher. Die Häuser sind mit einem Mal marode und zerfallen. In der Ferne hört Samantha das Jaulen von Wölfen. Auch das Kichern bitterböser Hexen schallt durch die Dunkelheit. Fröhliche Kinder hört sie gar nicht mehr und zum Dunkel der Nacht gesellt sich nun auch noch Nebel. So ist die Reichweite ihrer Sicht stark eingeschränkt. Vor sich hört sie plötzlich ein Rasseln und das Schlurfen weiter Schritte. Schnell versteckt sich Samantha in einem nahe stehenden Gebüsch. Das Schlurfen und Rasseln kommt näher und näher. Bis es direkt vor dem Gebüsch ist. Als Samantha durch die Zweige späht, sieht sie eine große Kreatur. Die steht nun still da und verschnauft. Samantha hält den Atem an. Für einen kurzen Moment kneift sie ihre Augen zu. Dann geht die Kreatur weiter. Was war das? Fragt sie sich. Sie vergewissert sich, dass die Luft rein ist und setzt ihren Weg zügig fort. Immer wieder schaut sie zurück. Da rennt sie plötzlich einem anderen Kind in die Arme und plumpst nach hinten.
„Hast du dir weh getan?“ Fragt das andere Kind. Als Samantha hochschaut sieht sie einen etwas komisch aussehenden Jungen. „Nein, geht schon.“ Antwortet sie und steht auf. Als das Mondlicht auf Samantha fällt, weicht der Junge zurück. „Bist du eine Hexe?“ Fragt er erschrocken. Samantha schüttelt den Kopf: „Quatsch. Das ist doch nur ein Kostüm.“ Der Junge überlegt kurz und murmelt dann leise vor sich hin: „Das ist ja komisch.“ Aber Samantha konnte ihn nicht richtig verstehen und fragt nach: „Was hast du gesagt?“ „Ich fragte: hast du dich verlaufen?“ antwortet der Junge. Samantha schaut sich um. „Irgendwie schon.“ Sagt sie dann. „Ja, das habe ich mir gedacht.“ Antwortet der Junge und nimmt ihre Hand. „Ich zeige dir den Weg zurück. Aber auf der Straße wird es zu gefährlich sein. Wir gehen besser über unser Grundstück.“
Zu gefährlich? Was meinte er damit? Denkt Samantha nach, während der Junge sie in schnellem Tempo hinter sich herzieht. „Wieso zu gefährlich? Und wieso rennen wir so?“ fragt Samantha. Der Junge scheint es sehr eilig zu haben, denn er dreht sich für die Antwort nicht mal um. „Du bist aus Versehen auf der anderen Seite gelandet.“ Sagt er hastig. „Andere Seite?“ fragt Samantha. „Andere Seite, wovon?“ „Von deiner Welt.“ Antwortet der Junge.
Samantha versteht nicht ganz und läuft nachdenklich weiter hinter dem Jungen her. Dann durchschreiten sie ein großes eisernes Tor und laufen über eine Wiese. „War das gerade ein Grabstein?“ fragt Samantha und schaut sich beim Laufen um.“ „Ja.“ Antwortet der Junge kurz und knapp. Samantha’s Stimme wird heller. „Sind wir etwa auf einem Friedhof?“ „Nein.“ Antwortet der Junge wieder kurz und knapp.“ „Kannst du mir mal sagen, was das alles soll?“ fragt Samantha und bleibt stehen. Der komische Junge dreht sich um und scheint zu überlegen.
Dann fragt er flüsternd: „Du hast doch bestimmt schon mal was von Geistern oder Monstern gehört oder?“ „Was?“ Samantha begreift nicht was los ist. „Ja, na und?“ sagt sie dann. „Du bist hier an dem Ort, wo sie herkommen.“ Sagt der Junge und will weitergehen. Aber Samantha zieht an seinem Arm. „Was? Was soll das heißen?“ Der Junge dreht sich wieder um. Dann fängt er an, sehr schnell und sehr leise zu sprechen. „Also, wir haben wirklich keine Zeit für so was. Ja, es gibt sie wirklich. Und ja, du bist gerade in ihrer Welt unterwegs – in Abyssus. Oder wie ihr gerne sagt – in der Schattenwelt. Nein, es sind nicht alle böse. Dafür bin ich der beste Beweis. Du kommst aus Arkadia. So nennen wir eure Welt zumindest. Und ja, ich will dir wirklich helfen. Aber wir müssen uns jetzt beeilen. Bevor ein Wolf oder gar Schniebel deine Fährte aufnimmt.“
Dann zieht der Junge Samantha wieder hinter sich her. „Schniebel?“ ruft Samantha laut. Da dreht sich der komische Junge ruckartig um und hält Samantha an beiden Schultern. Dann flüstert er: „Du musst unbedingt leise sein. Denn Schniebel sind nicht unsere größte Sorge. Wenn du nicht leise bist, wird es noch schlimmer. Dracula bewahre, dass dich vielleicht noch eine Gewitterhexe erspäht. Weil, dann kann ich dir auch nicht mehr helfen.“ Samantha schluckt. Dann greift plötzlich eine Hand nach ihrem Fuß. Sofort springt sie zur Seite und will aufschreien - aber der komische Junge hält ihr den Mund zu. „Pssst!“ sagt er. „Was habe ich denn gerade gesagt?“ Samantha zeigt nach unten und flüstert: „Ist das da eine Hand die aus dem Boden kommt?“ Der komische Junge schaut auf den Boden. „Das? Das ist nur Frieda. Die kommt immer zu Halloween aus dem Boden.“ Dann winkt er und flüstert: „Hallo Frieda.“ Und die Hand winkt zurück.
Samantha ist das zu viel. Sie bekommt keinen Ton mehr heraus. Der komische Junge zieht sie über das gesamte Grundstück hinter sich her. Vorbei an einem riesigen alten Schloss. „Wenn wir auf der anderen Seite an der Straße sind, haben wir es fast geschafft. Ich verstehe aber immer noch nicht, warum du hier bist. Das ist eigentlich nicht möglich!“ Flüstert der komische Junge im Gehen.
Dann bleibt er plötzlich stehen, hält seine Nase in den Wind und schnüffelt wie ein Hund. Schnell dreht er sich um und wirft Samantha zu Boden. „Reib dich mit Dreck ein und bleib still liegen.“ Flüstert er hastig, bevor er sich wieder wegdreht und das Getrappel von Pfoten zu hören ist. Als Nächstes ertönt das gierige Knurren eines Wolfes. „Runter von unserem Grundstück, Ragna!“ hört Samantha den komischen Jungen rufen. Dann folgt eine tiefe Stimme: „Edgar. Was machst du hier draußen? Solltest du nicht bei deinem Stiefvater sein?“ Der komische Junge antwortet frech und schlagfertig: „Müsstest du nicht noch ein Stöckchen holen?“ Sofort schallt ein angriffslustiges Knurren durch die Nacht und Samantha zuckt zusammen. Der komische Junge aber gibt sich unbeeindruckt. „Du kannst froh sein, dass mein Vater gerade nicht hier ist! Oder willst du, dass er dich nochmal vom Hof jagt.“ Wieder schallt ein lautes Knurren durch die Dunkelheit und dann sind plötzlich Flügelschläge zu hören und etwas saust auf die Erde nieder. Als Nächstes vernimmt Samantha ein Jaulen und dann eine hallende, starke – fast schon hypnotische - Stimme: „Ragna! Es reicht! Geh jetzt oder bleib für immer!“ Sofort ist wieder das Trappeln von Pfoten zu hören, das in der Ferne immer leiser wird. Danach herrscht Stille.
Nach einer Weile raschelt es vor Samantha und sie reißt erschrocken die Augen auf. Vor ihr stehen der komische Junge und ein großer Mann in einem schwarzem Umhang. „Hab keine Angst mein Kind.“ Sagt der Mann. „Edgar wird dich sicher auf die andere Seite begleiten.“ Doch Edgar versteht immer noch nicht, wie Samantha eigentlich hier sein kann: „Vater, du erkennst sie! Warum ist sie hier?“ Aber der große Mann gibt dem Jungen keine Erklärung: „Alles zu seiner Zeit, Edgar.“ Sagt er nur. Dann wirft er seinen Umhang um sich herum und in Sekundenschnelle ist er komplett in Rauch gehüllt. Als sich der Rauch verzieht, ist der Mann verschwunden und Samantha sieht nur noch eine Fledermaus davonfliegen.
Mit offenem Mund hock sie auf dem schlammigen Boden und hat mehr Fragen als Antworten. Der komische Junge hilft ihr auf, nimmt sie wieder an die Hand und zieht sie weiter hinter sich her. Der Weg gestaltet sich etwas holpriger als zuvor, denn Samantha hat noch ganz zittrige Beine: „Wer war das?“ fragt sie. „Mein Stiefvater.“ Antwortet der Junge. „Was ist er?“ fragt Samantha weiter. „Ein Vampir.“ antwortet der Junge. „Oder besser: der Vater aller Vampire - Dracula. Aber hab keine Angst, er wird über uns wachen, bis wir an der Straße sind.“
An der Straße angekommen stehen Edgar und Samantha wieder vor einer Nebelwand. „Wenn du da durchgehst, bist du wieder genau dort, wo du in deiner Welt vorhin gewesen bist. Und egal, was du tust, gehe nicht nochmal durch die Nebelwand.“ Sagt Edgar. Samantha nickt: „Ich danke dir für alles! Auch wenn ich es nicht verstehe und wir uns wohl auch nie wieder sehen.“ Antwortet sie. „Ich weiß auch nicht, wie du herfinden konntest!“ erwidert Edgar und zuckt fragend mit den Schultern. Sonst sagt er nichts mehr. Er schaut Samantha nur mit seinen traurigen Augen an und steht so komisch vor ihr, wie er es auch beim ersten Treffen tat. Samantha hat diesen komischen Jungen irgendwie liebgewonnen: „Mach’s gut.“ Sagt sie und geht langsam auf den Nebel zu.
Doch bevor sie der Nebel ganz umhüllt, dreht sie sich nochmal um und fragt: „Aber müsste ich jetzt nicht woanders rauskommen?“ Da schüttelt Edgar den Kopf und lächelt auf seine eigene verlegene Art und Weise: „Ich weiß, bei euch ist immer alles gerade. Wenn ihr hier loslauft, müsst ihr dort ankommen. Oben ist oben und unten ist unten. Aber in unserer Welt ist das nicht so.“ Antwortet er und holt Luft, als ob er noch etwas sagen will. Doch dann atmet er einfach nur aus, als wüsste er nicht, wie er es noch erklären könnte. Samantha hat mal wieder kein Wort verstanden. Trotzdem lächelt sie Edgar an und nickt. Und während sie winkend durch die Nebelwand geht, sieht sie Edgar zurückwinken und hinter Edgar winkt Frieda.
Autor: Jens Pätz