Opa Heinz und die Meerjungfrau
Tamara sitzt bei ihren Großeltern am Esstisch – es ist Abendbrotzeit. Opa Heinz erzählt mal wieder die tollsten Geschichten. Er war früher einmal Seemann gewesen und hat viel erlebt. Oma Helene sagt ihm immer wieder er solle das Essen nicht vergessen. Aber Opa Heinz ist so in Fahrt, dass er gar nicht zum Essen kommt.
Er erzählt von Seeungeheuern, Meerjungfrauen und Wellen, die so hoch wie Häuser waren. „Da spinnst du doch wieder dein Seemannsgarn!“ sagt Oma Helene. „Das ist kein Seemannsgarn Leni!“ sagt Opa Heinz. „Hör doch erst mal richtig zu.“ „Ach.“ winkt Oma Helene ab. „Du setzt der Kleinen nur Flausen in den Kopp.“
Nach dem Essen schlägt Opa Heinz einen Spaziergang am Strand vor. „Ach Heinz.“ sagt Oma Helene. „Es regnet doch.“ Aber Opa Heinz lässt sich nicht beirren. „Es hat doch schon fast aufgehört. Außerdem gibt es für jedes Wetter die richtige Kleidung.“ sagt er und hält Tamara die Regenjacke hin. „Wir sind in einer halben Stunde wieder da. Machst du uns dann heißen Tee?“ fragt er noch, bevor Tamara und er zur Tür rausspazieren. Und Oma Helene schüttelt den Kopf und sagt, was sie immer sagt: „Du sturer Bock. Natürlich mache ich euch Tee. Ihr sollt ja keinen Schnuppen bekommen.“
Es ist ein ungemütliches Wetter. Die See ist rau. Aber der Regen hat schon fast aufgehört. Die raue See erinnert Opa Heinz an eine stürmische Seefahrt und er fängt an zu erzählen. So beginnt eine Geschichte die Tamara ganz still werden lässt.
„Ich erinnere mich an eine Seefahrt, die hätte dein Opa fast nicht überlebt. Es ist schon sehr lange her. Ich war selbst noch ein junger Bursche und fuhr noch gar nicht lange zur See. Die See war noch viel rauer als Heute und es stürmte aus allen Himmelstoren. Die Wellen schlugen gegen den Kutter und das ganze Schiff schaukelte hin und her. Einige der Seemänner fürchteten schon, dass der Kutter voll Wasser laufen würde. So hoch schlugen die Wellen.
Es war schon dunkel geworden und der Regen peitschte uns ins Gesicht. In der Dunkelheit hatten wir die Sicht verloren und befürchteten auf einer Sandbank Kiel zu laufen. Bei dem Sturm nützte dir auch der beste Kieker nichts, weißt du?“ Tamara sieht Opa Heinz fragend an: „Kieker?“ „Ja.“ sagt Opa Heinz. „Das ist ein Fernglas. Und bevor du fragst, Kiel laufen bedeutet, dass das Schiff auf Grund setzt.“ Tamara nickt mit großen Augen und offenem Mund.
Dann erzählt Opa Heinz weiter: „Irgendwann glaubte ich selbst nicht mehr daran, dass wir heile zu Hause ankommen würden. Wir wussten ja noch nicht mal in welche Richtung wir mussten. Der Sturm zog sich weiter zu und ich sah die Hand vor Augen nicht mehr.
Da leuchtete plötzlich etwas im Wasser. Bei dem Licht sah ich ein kleines Mädchen. Potz Blitz, ich dachte ein blinder Passagier wäre über Bord gegangen und wollte mich auf den Weg zur Glocke machen. Da sah ich, wie das Mädchen aus dem Wasser sprang.
Ich traute meinen Augen nicht. Sie sprang ganz aus dem Wasser raus und wieder hinein. So wie ein Delphin. Aber ich sage dir, das war kein Delphin. Und es war auch kein kleines Mädchen. Beim Sprung aus dem Wasser erkannte ich eine riesige Flosse. Ich bin mir sicher, dass das tatsächlich eine Meerjungfrau war.
Immer wieder sprang sie in die Luft und drehte sich, bis ich verstand, dass wir ihr folgen sollten. Sie schwamm voraus und leuchtete uns den sicheren Weg in den Hafen. Diese kleine Meerjungfrau hat uns das Leben gerettet! Aber danach habe ich sie nie wieder gesehen. Oma Helene hat mir das nie geglaubt. Aber es ist die Wahrheit.“
Tamara sieht Opa Heinz mit offenem Mund an: „Ich glaube dir Opa. Wie sah sie denn aus?“ „Wie ein kleines Mädchen. Im Dunkel konnte man nicht allzu viel erkennen. Ich meine sie hatte blondes Haar und eine riesige Schwanzflosse. Sie war wirklich schnell – schneller als jedes Boot, dass ich bis dahin kannte.“
Der Regen hat inzwischen aufgehört und die See hat sich beruhigt. Es weht eine milde Brise vom Wasser her und Tamara lauscht gespannt jedem Wort, das aus Opa Heinz seinem Mund kommt.
Was die beiden aber nicht wissen ist, dass die kleine Meerjungfrau aus Opa Heinz seiner Geschichte dieses Mal seine Hilfe braucht. Und zwar genau jetzt. Ihr Name ist Amelie. Damals wies sie Opa Heinz den sicheren Weg in den Hafen. Jetzt braucht sie selbst Hilfe.
Noch vor einigen Stunden hatte sie mit den Fischen am Grund der See gespielt. Dann frischte die See auf und Amelie merkte, dass sie weiter raus geschwommen war als sie wollte.
Für so eine tapfere kleine Meerjungfrau ist das doch kein Problem könnte man meinen. Aber auch für Meerjungfrauen kann die raue See gefährlich werden. Amelie schwamm gerade in Richtung der heimischen Höhlengewölbe, da passte sie kurz nicht richtig auf und eine Strömung erfasste sie. Sie verlor den Halt und stieß mit ihrem Kopf gegen einen Stein. Bewusstlos wurde sie an den Strand gespült und die Ebbe setzte ein.
Es ist derselbe Strand an dem auch Opa Heinz und Tamara spazieren gehen. Aber die Beiden sind noch viel zu weit weg, um Amelie helfen zu können. Lange hält es eine Meerjungfrau auf Land jedoch nicht aus.
Amelie wacht auf und bemerkt, dass sie an Land liegt. Die Ebbe hat die See weit zurück gedrängt. Sie zappelt wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber sie kommt nicht richtig voran. Eine kurze Strecke hätte sie schaffen können. Aber die See ist durch die Ebbe viel zu weit weg.
Entmutigt gibt sie auf und bricht in Tränen aus. „Warum passiert mir das? Ich habe doch nie etwas Böses getan.“ weint sie. „Ach Schätzchen, das hat doch damit nichts zu tun.“ sagt eine Stimme plötzlich. Amelie schluckt und wischt sich die Tränen weg. Aber sie sieht nichts. „Hier oben bin ich.“ sagt die Stimme.
Jetzt sieht Amelie eine kleine Fee mit wunderschönen Flügeln über ihr flattern. „Was bist du?“ fragt Amelie. „Na wonach sieht es denn aus? Ich bin eine gute Fee. Um genauer zu sein – deine gute Fee. Aber viel hat man als Fee einer Meerjungfrau ja nicht zu tun.“ lächelt sie.
„Feen gibt es doch gar nicht!“ sagt Amelie. „Die gibt es doch nur im Märchen.“ Die Fee guckt Amelie verwirrt an: „Ach herrje. Und das kommt ausgerechnet von einer Meerjungfrau? Du weißt schon, dass Meerjungfrauen genauso Fabelwesen sind wie Feen?“
Amelie schüttelt den Kopf: „Nein, es gibt viele von uns in der See. Wir sind doch keine Fabelwesen.“ Die Fee fasst sich an den Kopf: „Oh je Schätzchen, was bringen die euch da unten bloß bei?“ Dann macht sie zwei Fäuste und stemmt sie gegen ihre Hüfte: „Egal, wichtig ist jetzt, dass wir dich zurück ins Wasser bekommen. Und zwar flott!“
„Aber wie willst du mir helfen? Du bist doch viel zu klein, um mich zurück in die See zu bringen.“ sagt Amelie enttäuscht und ist den Tränen wieder nah. „Schätzchen.“ sagt die Fee. „Das hat doch mit der Größe nichts zu tun. Auch Kleine können helfen!“
Dann überlegt die Fee: „Hm, wie war denn nochmal der Zauberspruch für eine gestrandete Meerjungfrau? Du musst entschuldigen. Ich bin etwas aus der Übung. Die meiste Zeit bist du ja im Wasser und ich an Land. Wie war das denn nochmal?“
Dann schwingt sie ihren Zauberstab und murmelt ein paar Worte. Im nächsten Moment beginnt sich der Boden unter Amelie mit Wasser zu füllen. Das Wasser wird immer mehr, bis Amelie vollkommen vom Wasser eingehüllt ist. Das Problem ist nur, dass das Wasser nur um Amelie herum ist. Sie schwimmt jetzt wie in einer Seifenblase.
Die Fee atmet bedrückt aus: „Das war es wohl nicht.“ sagt sie. Dann zieht sie eine Augenbraue hoch und sagt: „Aber Zeit haben wir gewonnen. Technisch gesehen, bist du erst einmal wieder im Wasser.“ Amelie nickt und freut sich wieder Wasser zu spüren.
Aber so sehr die kleine Fee auch überlegt, sie kommt nicht auf den Zauberspruch. „Es ist ganz schön dunkel geworden.“ sagt sie dann. „Ich mache uns erst mal Licht.“ Sie schwingt ihren Zauberstab erneut und ein kleines Licht schwebt neben ihr. „Jetzt sehen wir zumindest schon mal etwas.“
Ein paar Meter weiter den Strand hinunter spazieren Opa Heinz und Tamara. Als Tamara das Licht entdeckt zeigt sie aufgeregt auf das leuchtende Etwas: „Da Opa. Das Licht von dem du erzählt hast.“ Opa Heinz kratzt sich am Kopf: „Nein, das ist bestimmt nur eine Laterne. Da geht noch wer spazieren.“ „Aber es bewegt sich doch gar nicht.“ ruft Tamara aufgeregt. Sie zieht Opa Heinz an der Hand. „Los komm Opa. Das ist deine Meerjungfrau!“
Opa Heinz überlegt, ob Oma Helene vielleicht doch recht hatte. Vielleicht hätte er die Geschichte nicht erzählen sollen. Vielleicht setzt er Tamara damit wirklich nur Flausen in den Kopf?
Da sieht er plötzlich seine Meerjungfrau am Strand in einer Wasserblase schweben. Stocksteif bleibt er stehen: „Was, aber was?“ sagt er und starrt Amelie an. Tamara ist ganz außer sich: „Da Opa, siehst du? Ich habe es dir doch gesagt. Ist das die Meerjungfrau, die dich gerettet hat?“ Und auch Amelie erkennt Opa Heinz wieder. „Du bist älter geworden.“ sagt sie. „Aber ich erkenne dich!“
Bevor die Fee das hören konnte, flattert sie schon auf Opa Heinz los und boxt ihm mit ihren kleinen Ärmchen gegen die Nase: „Halt!“ ruft sie dabei. „Ihr werdet Amelie nicht anfassen, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun!“ Opa Heinz greift vorsichtig nach der Fee: „Es ist schon gut. Ich werde ihr nichts tun. Wir kennen uns.“ Die Fee schaut verwundert zu Amelie rüber: „Stimmt das?“ Amelie nickt.
Opa Heinz geht näher an Amelie heran: „ Du heißt also Amelie?“ fragt er. Dann zeigt er auf Tamara. „Das ist meine Enkelin Tamara.“ Amelie begrüßt Tamara, die jetzt aufgehört hat zu plappern und mit offenem Mund dasteht. „Du bist wunderschön!“ sagt Tamara und Amelie bedankt sich.
Opa Heinz streckt seine Hand nach dem Wasser aus und sagt: „Ich konnte mich nie bei dir bedanken. Du hast mir das Leben gerettet!“ In diesem Moment haut ihm die Fee auf die Hand: „Finger weg von meinem Wasser.“ Dann winkt sie mit dem Zeigefinger: „Das berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten. Und jetzt geht. Wir haben zu tun!“
Die Fee flattert zu Amelie und versucht angestrengt die Wasserblase zu schieben. Aber sie bewegt sich nicht. Amelie ist zu schwer. „Ich helfe euch.“ sagt Opa Heinz und will gerade mit schieben, als die Fee aufschreit: „NEIN! Ich hab doch gesagt nicht anfassen!“ Opa Heinz bleibt ruckartig stehen.
„Wenn ihr die Wasserblase berührt, zerplatzt sie oder gar Schlimmeres!“ Die kleine Fee holt gerade Luft um weiter zu schnattern, als sie aus den Augenwinkeln die kleine Tamara die Wasserblase schieben sieht. „Aber wie ist das möglich?“ fragt die Fee.
Amelie nickt der Fee zu: „Es ist schon gut. Tamara ist meine Seelenverwandte. So wie ich es bei Heinz damals gespürt hatte, spüre ich es jetzt bei ihr. Und ich werde es irgendwann auch bei ihren Kindern spüren.“ Und Tamara schiebt die kleine Meerjungfrau den ganzen weiten Weg zurück in die See.
Als Amelie wieder in der See ist, springt sie vergnügt in den Wellen umher. Dann taucht sie auf und winkt Tamara zu: „Vielen Dank liebe Tamara. Wir werden uns bestimmt wiedersehen! Aber jetzt muss ich zurück.“ sagt sie, dreht sich um und verschwindet in den Wellen.
Als sich Tamara umdreht, ist die Fee auch verschwunden. Opa Heinz steht weiter hinten am Strand und winkt Tamara zu sich. „Komm meine Kleine, wir müssen auch zurück. Oma Helene wartet bestimmt schon mit dem Tee auf uns.“
Als sie zu Hause ankommen erzählt Tamara wie ein Wasserfall. Die Geschichte sprudelt aus ihr heraus: „Und dann habe ich die Meerjungfrau zurück in die See geschoben. Sie hat mir noch einmal zugewunken und ist dann verschwunden. Auch die Fee war dann weg.“ Oma Helene streicht ihr über die Wange: „Na, da habt ihr ja ein richtiges Abenteuer erlebt. Aber jetzt wird der Tee getrunken und dann geht es ab in die Falle.“
Nachdem Oma Helene Tamara ins Bett gebracht hat, schaut sie Opa Heinz an und lächelt: „Was hast du bloß mit ihr gemacht? Sie hat die ganze Zeit erzählt, bis sie eingeschlafen ist. Den Seemannsgarn, den sie spinnt, der passt auf keinen Wickel mehr.“ Opa Heinz lächelt nur zurück und nickt: „Es gibt so viel Fantastisches da draußen. Und Geschichten wollen erzählt werden. Lass sie träumen!“
Dann gehen auch Oma Helene und Opa Heinz ins Bett. Und Opa Heinz ist glücklich, dass er jetzt jemanden hat, der ihm glaubt und seine Geschichten mit ihm teilt. Auch wenn es ein Geheimnis zwischen den beiden bleiben wird. Tamara und er wissen, dass es da draußen eine kleine Meerjungfrau namens Amelie gibt, die auf See immer über sie wachen wird.
Autor: Jens Pätz