Marlons Abenteuer
Marlon ist ein Dinosaurier und zählt zu den Compsognathidae, das hatte er bereits im Kindergarten gelernt. Es fiel ihm nicht immer leicht, dieses komplizierte Wort auszusprechen, aber mit der Zeit wurde es immer besser. Prinzipiell gab es auch noch niemanden, der ihn hätte fragen können, was für ein Dinosaurier er denn nun genau ist. Mit vier Jahren war Marlon nämlich einfach noch zu klein, um den gesicherten Bereich des Rudels zu verlassen.
Seine Eltern haben ihm schon oft gesagt, dass es da draußen viel zu gefährlich für ihn sei. Zwar lebten alle Dinosaurier in einem friedlichen Bündnis miteinander, aber manche von ihnen seien einfach so unvorstellbar riesig, dass sie gar nicht bemerken würden, käme Marlon unter ihre ebenso riesigen Füße. Und der kleine Dinosaurier gehöre eben zu den allerkleinsten Dinos, so erklärten Mama und Papa ihm das immer. Als Zwerg-Dinosaurier, würde er nie größer als 70 bis 140 cm werden und auch höchstens nur drei Kilogramm wiegen. Für einen Dinosaurier war das wirklich, wirklich klein!
Marlons Eltern betonten aber auch stets die Vorteile, die diese Größe mit sich bringen würde. So sei er sehr flink, wendig und passe in viele Schlupflöcher - aber diese Fähigkeiten müssten durch viel Training erst noch ausreifen.
Natürlich hatte Marlon schon viele Geschichten von der Welt gehört, denn sein Papa war regelmäßig dort, um das Essen für die Familie zu besorgen. Er sprach von Flugsauriern, von Dinos, deren Hälse bis in die Wolken reichten und von solchen mit großen Zacken auf dem Rücken. Marlon hatte schon sehr viele Zeichnungen von all diesen Mitbewohnern gesehen, aber er konnte es einfach kaum noch erwarten, all das endlich mit eigenen Augen zu sehen.
Gleich würden Mama und Papa erst einmal in sein Zimmer kommen, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. In der Zwischenzeit steckte er noch einmal die Nase in seine Bücher, damit er vorbereitet wäre, wenn er schon bald auf Stegosaurier, Brachiosaurier, Archaeopteryx und weitere fantastische Dinos treffen würde. Die erste Seite zeigte ihm einen Triceratops.
Er musterte gerade den gewaltigen Kopf dieser stämmigen Vertreter, als ein kräftiger Windstoß ihn plötzlich unsanft auf den Boden wehte. Seit wann war der Boden in seinem Zimmer denn matschig?
Alles sah auf einmal auch so anders aus: Überall Bäume! Bäume so hoch, dass er ihre Kronen gar nicht richtig erkennen konnte! Um sich herum nahm er auf einmal ein reges Treiben wahr - eine Menge lauter Geräusche und überall Bewegung. Er wollte gerade losgehen, als er spürte wie die Erde unter ihm regelrecht bebte. Das Wasser in den Pfützen, die ihn umgaben, vibrierte sichtbar. Starr vor Schreck und völlig desorientiert wusste Marlon weder wohin, noch wie ihm geschah.
Er traute seinen Augen kaum, als unmittelbar vor ihm ein Langhals an einen der Bäume herantrat und damit begann, genüsslich dessen Blätter zu verspeisen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er für diesen riesigen Dinosaurier eine Art Käfer sein musste. Und überhaupt nahm er ihn von dort oben aus gesehen wahrscheinlich nicht einmal wahr. Je länger Marlon sich umsah, desto mehr Eindrücke eröffneten sich ihm. Überall krabbelten kleinere Saurier und trotteten größere Vertreter, einfach überall war Bewegung. Selbst wenn er hätte weitergehen wollen, er hätte gar nicht gewusst, wo und wie er sich da am besten einfädeln sollte.
Während er wieder kurz darüber nachdachte, wie sich sein Zimmer in diese Welt verwandeln konnte, nach der er sich so sehr gesehnt hatte, riss ein schlagendes Geräusch ihn aus den Gedanken. Es war laut und bedrohlich. Marlon suchte mit seinen Augen die Umgebung nach der Herkunft dieses Geräusches ab, als Windstöße ihm plötzlich den Stand erschwerten. Genauso wie vor wenigen Momenten, als er aus dem Bett auf diesen matschigen, nassen Boden geweht worden ist! Als dann noch die kaum sichtbaren Baumkronen raschelten und eine Menge Blätter herunterfielen, sah er mit großen Augen den Flugsaurier, der gerade dabei war sich immer höher in die Luft zu erheben. Mit aufgerissenem Mund kam Marlon aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
Der kleine Dino konnte es kaum glauben, dass er gerade einen Archaeopteryx in voller Größe erblickte, als sich über ihm plötzlich alles verdunkelte. Mit einem Mal sah Marlon diesen riesigen Fuß auf sich zukommen, dem er schreiend entkommen wollte, als - Mama ihn zu sich auf den Arm nahm.
Während er noch wild strampelte konnten ihn Mamas Worte allmählich beruhigen, die ihm sagten, dass er nur geträumt habe. Geträumt? Er muss also vor dem Gute-Nacht-Kuss und in sein Buch vertieft eingeschlafen sein. Glücklich und heilfroh kuschelte er sich in Mamas Arme und dachte sich, dass sein erster Ausflug in die große, weite Welt ganz sicher noch etwas warten könnte.
Autorin: Ramona Windelschmidt