Die böse Königin und das Einhorn
Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin. Die lebte in einem großen Schloss. In einem Königreich, in dem sich saftige Wiesen und fruchtbare Felder weit über das ganze Land erstreckten. Das Schlossgefolge, wie auch das gemeine Volk, liebten die Prinzessin für ihre herzliche Art. Doch gab es da noch eine böse Schwester, deren Art nicht so herzlich war. Nur auf das eigene Wohl besonnen, war sie gar egoistisch und zuweilen auch heimtückischer Natur. Sie konnte es nicht ertragen, dass ihre Schwester hübscher war als sie und schon gar nicht, dass das Volk sie mehr liebte. So sann sie zu jeder Zeit darauf, ihrer Schwester zu Schaden.
An Geburtstagen der guten Prinzessin feierte das Volk ausgelassen, voller Freude und Glück. Die Prinzessin wollte keine Geschenke. Die fröhlichen Gesichter des feiernden Volkes waren ihr Geschenk genug. Die böse Schwester hingegen verlangte an ihren Geburtstagen große und prächtige Geschenke, sodass das Volk schuftete und sich mühte, den Erwartungen der gierigen Prinzessin nachzukommen.
Doch die böse Prinzessin verschmähte die meisten Geschenke. Nicht edel oder nicht hübsch genug - warf sie die Geschenke hinfort. An einem dieser Geburtstage warf sie gar alle Geschenke auf den Hof hinaus und rief: „Liebt ihr eure Prinzessin nicht? Dass ihr nur Schund und liebloses Gebündel übrig habt!“ Als die gute Prinzessin das sah, eilte sie zu ihrer Schwester: „Aber Schwesterherz; so grausam kannst doch nicht einmal du sein. Die schwere Arbeit der Handwerksgelehrten, die liebevoll gesponnenen Kleider - und du wirfst sie in den Schmutz!“ Da fuhr die böse Prinzessin herum: „Schwesterherz? Ihr verwechselt mich wohl mit euch selbst. Liebevoll gesponnen sagt ihr? Mit schwerer Arbeit hergestellt? Nun, vielleicht haben unsere Gelehrten und Spinnerinnen nicht genügend Schweiß und Blut verarbeitet. Vielleicht verhöhnen sie mich aber auch nur - und es ist der hohle Spott, den sie mir mit diesen nichtsnutzigen Geschenken entgegenbringen - liebes Schwesterherz. Heute ist mein Tag und nicht der Deine!“
Da ertönten die Fanfaren und das Schlosstor öffnete sich. Von weither wurde ein besonderes Geschenk gebracht. Der König hatte Kunde erhalten, dass im tiefen Lande gar ein einzigartiges Wesen gefunden worden war. Und so sandte er getreue Gefolgsleute aus, um seiner nie zufriedenen Tochter dieses einzigartige Geschenk zu machen.
Geschwind und voller Freude huschte die böse Prinzessin hinunter, um ihr wohl verdientes Geschenk zu begutachten. Eines, das endlich ihrer Einzigartigkeit und Schönheit gleichkommen sollte. Sie erwartete das vollkommene Geschenk und dann fiel ihr Blick auf ein pferdeähnliches kleines Wesen. Noch ganz unbeholfen stolperte das kleine Tier auf sie zu. Doch die Prinzessin war empört: „Das soll mein Geschenk sein?“ rief sie. „Ein hässliches, kleines, schwaches Pferd. Mit einer ekelhaften Scheckung im Fell? Unbeholfen und offensichtlich auch missgebildet. Was erwächst dort auf seiner Stirn? Eine kleine Lanze? Ist es Ritter und Pferd zugleich?“ lachte sie höhnisch und befahl dem Jägersmann das Tier zu erschießen.
Der Jägersmann spannte den Bolzen in die Armbrust und legte an - bereit das arme kleine Tier auf Erlass der bösen Prinzessin zu erlegen. Das kleine Einhorn aber begriff den Ernst der Lage nicht und sprang wackelig aber munter auf den Jägersmann zu. Zur gleichen Weil stürzte die gute Prinzessin vor das Einhorn und rief: „Haltet ein, guter Jägersmann! Ich will für es sorgen.“ Doch die böse Prinzessin ballte die Fäuste und schrie: „Mach den Weg frei, Schwester! Es ist mein Geschenk und ich kann damit tun, was ich will!“
Die Königin jedoch nahm die Hand ihres Gatten und angetan des mutigen Einschreitens - der guten Prinzessin - nahm sich der König ein Herz und widersprach der bösen Prinzessin. „Da du es nicht haben willst, soll deine Schwester es bekommen. Auf dass das Tier nicht leiden möge.“ Sprach er und der Jägersmann setzte ab. Das Volk jubelte und die böse Prinzessin lief wütend in ihre Gemächer.
Die Zeit verging und die Prinzessinnen wurden erwachsen. Eines Tages war es dann so weit und der König und die Königin verstarben. Die böse Prinzessin erbte als älteste Tochter rechtmäßig den Thron. Düstere Zeiten brachen an, denn die neue Königin regierte kaltherzig und mit eiserner Faust über das Land.
Das Einhorn aber gedeihte immer prächtiger und prächtiger. Von dem kleinen, tollpatschigen Wesen, war nun nichts mehr zu erkennen. Sogar die Scheckung im Fell war gänzlich verschwunden. Es war ein gar prächtiges und starkes Tier erwachsen. Groß und mit goldenem Schweif und goldener Mähne. Das Tier war ganz der guten Prinzessin verschrieben. Nur sie konnte es reiten. Und wenn sie das tat, war das Einhorn das schnellste und edelste Tier im ganzen Land. Und mehr noch. Das Einhorn besaß magische Kräfte. Doch die verschwieg die gute Prinzessin gar gänzlich; da Magie nicht gerne gesehen war und die Prinzessin Angst um ihr liebes Tier hatte.
Die böse Königin aber ärgerte und grämte sich Jahr für Jahr, dass etwas so prächtiges aus dem Tier erwuchs, das sie einst verschmähte, ja, gar töten lassen wollte. Das Volk schuftete unterdessen Tag ein Tag aus und litt unter der kalten Herrschaft. Die böse Königin wurde immer gieriger und raffsüchtiger. Das ganze Schloss ließ sie in mühevoller Handarbeit vergolden. Es schien alles perfekt zu sein. Wäre da nicht noch ein prachtvolles Tier mit goldener Mähne, goldenem Schweif und goldenen Hufen, das sich gar prächtig in ihren Reichtum einreihen würde. Zu gern hätte sie das goldene Einhorn ihr Eigen genannt. Doch ihrer Schwester konnte sie das Tier nicht entreißen. Zu groß wäre der Aufruhr des Volkes gewesen!
Unglücklicherweise beging die gute Prinzessin jedoch eines Tages einen gar schwerwiegenden Fehler. Dieser sollte der bösen Königin die Gelegenheit verschaffen an das goldene Einhorn zu gelangen.
Die gute Prinzessin konnte das Leid des Volkes eines Tages nicht mehr ertragen und begann den Bauern und Handwerksgelehrten Speis und Trank zu bringen. Als die böse Königin davon erfuhr, war sie außer sich vor Zorn. Aber auch froh über diese Gelegenheit. „Du dummes, dummes, Schwesterherz.“ Flüsterte sie leise. Dann befahl sie die gute Prinzessin wegen des Verrates an der Krone in Ketten zu legen. Das Einhorn aber solle man zu ihr bringen. Zur not mit Gewalt.
Die Königliche Wache bahnte sich ihren Weg durch das Volk, um die Prinzessin zu verhaften und das Einhorn zu fangen oder im Falle der Widersetzung mit aller Macht zu bändigen. Als man die gute Prinzessin ergriff, protestierte das Volk und die Bauern und Händler versuchten die Wachen aufzuhalten. Derweil wieherte und schnaufte das Einhorn. Es scharrte mit den Vorderhufen und bäumte sich auf. In diesem Getümmel sprang die gute Prinzessin auf ihr Tier und ritt davon. Das Einhorn war so geschwind, dass keine Wache sie einzuholen vermochte.
Weit weg und in Sicherheit war die gute Prinzessin erleichtert, den königlichen Wachen entkommen zu sein. Doch erfüllte es sie mit wahrhaftiger Trauer, dass das Volk weiter leiden würde - und nun wahrscheinlich mehr denn je. Sie fasste den Entschluss sich freiwillig zu stellen und ritt zum Schloss. Dort warf man sie in den Kerker. Das Einhorn aber brachte man zur Königin.
Die Königin war entzückt. Endlich war ihre Schwester aus dem Weg geschafft und das Einhorn gehörte ihr. „Du hübsches Tier.“ Sprach sie. „Mit goldener Mähne und goldenem Schweif. Jetzt gehörst du ganz mir. So sei es!“ Sie ging auf das Tier zu und das Einhorn senkte den Kopf. „Ein Zeichen der Unterwerfung.“ Sagte die Königin. „Du bist wahrhaft ein schlaues Tier.“ Doch dann begann das Horn des Einhorns zu glühen. Die böse Königin erschrak. Doch als sie die Wache rufen wollte, versagte ihre Sprache. Kein Wort verließ mehr den königlichen Mund.
Als Nächstes erstarrte die Königin und sie konnte sich nicht mehr bewegen. Nicht rauf, nicht runter, nicht links, nicht rechts. Dann sprach das Einhorn: „Ihr habt viel Unheil über dieses Land gebracht. Doch diese Tage seien nun gezählt - meine Königin. Lange habe ich diesen Tag herbeigesehnt - und nun ist er endlich gekommen.“ Plötzlich zuckte die Königin und Wärme breitete sich vom kalten Herzen bis in die Zehen- und Fingerspitzen aus. Mit einem Male verstand sie, wie böse sie war und es brach ihr das kalte Herz. Tränen flossen über ihr Gesicht. Wie viel Leid hatte sie über ihr Volk und ihre Familie gebracht. Wie viele Jahre verbreitete sie Angst und Schrecken im ganzen Land. Sie begriff es nun und würde alles anders tun, doch der Schmerz ihrer Taten war unerträglich. Sie war mit dem Einhorn verbunden und sprach ohne zu sprechen. „Lass mich sterben liebes Tier. Frei sollst du sein, wie auch mein Volk und meine Schwester - von all dem Leid, das ich brachte.“
Doch das Einhorn wollte nicht ihren Tod. Es wollte die Einsicht der Königin und es hatte bekommen wonach es verlangte. So ließ es alle Wut, Zorn, Schmerz und Leid - der bösen Königin - verschwinden. Doch die Erinnerung an ihre Taten beließ es ihr. Die Königin sank zu Boden und weinte Freuden-tränen. So befreit hatte sie sich noch nie gefühlt.
Sie ließ die gute Prinzessin befreien und regierte das Land ab da an gemeinsam mit ihrer Schwester sanftmütig und barmherzig. Das Land erblühte wieder zu voller Pracht und das Volk war wieder glücklich, wie einst zu Zeiten des Königs und der Königin. Das Einhorn jedoch wart nie mehr gesehen. Auch, wenn es die gute Prinzessin traurig stimmte, einen solchen Freund verloren zu haben, wusste sie doch, dass die Aufgabe des Einhorns hier erledigt war. Und so lebten und regierten die Geschwister voller Sanftmut und Glück bis ans Ende aller Tage.
Autor: Jens Pätz